Nellys Entscheidung für ein neues Leben
Nelly zählte ein letztes Mal das Geld im Büro des Immobilienmaklers. Zwei Jahre hatte sie als Krankenschwester tagsüber gearbeitet und abends in einer Privatklinik dazuverdient. Praktisch keine freien Tage – jede freie Minute wurde in zusätzliches Einkommen umgewandelt. Ihr Ziel war klar: eine eigene Wohnung.
“Die Unterlagen sind bereit”, sagte die Immobilienmaklerin und reichte ihr die Mappe. “Eine Zweizimmerwohnung in einem massiven Gebäude, in einem guten Viertel. Herzlichen Glückwunsch zur Kaufentscheidung!”
Nelly unterschrieb den Vertrag, während ihre Hände vor Aufregung zitterten. Endlich! Ihre eigene Wohnung, ihre Schlüssel, ihre Wände. Keine Mietwohnungen mehr, keine launischen Vermieter und ständigen Umzüge.
Pawel nahm die Neuigkeit gelassen auf. Er war Manager in einer kleinen Firma, das Gehalt durchschnittlich, für Ersparnisse reichte es nicht. Als Nelly von ihrem Kauf erzählte, nickte er nur.
“Gut gemacht. Bedeutet das, dass wir umziehen?”
“Natürlich. Warum sollten wir eine Mietwohnung haben, wenn wir eine eigene haben?”
Der Umzug verlief rasch. Es gab nicht viel, denn jahrelanges Mietleben hatte sie gelehrt, nichts Überflüssiges anzuhäufen. Nelly stellte das Geschirr in der Küche auf, während Pawel den Fernseher im Wohnzimmer anschloss.
“Sieht gut aus”, bewertete Pawel das Zimmer. “Geräumig, hell. Du hast eine gute Wohnung ausgesucht.”
“Ich habe lange gesucht. Es sollte ein anständiges Viertel sein und ein solides Gebäude.”
“Richtig. Wenn schon investieren, dann in ein gutes Zuhause.”
Die ersten Monate des gemeinsamen Lebens in der neuen Wohnung verliefen harmonisch. Nelly arbeitete weiterhin in zwei Schichten, jetzt um das Zuhause zu gestalten. Möbel, Geräte und Renovierung im Schlafzimmer waren notwendig. Pawel half manchmal beim Einkaufen, beteiligte sich aber finanziell nicht.
“Mein Gehalt ist niedriger”, erklärte er. “Du verdienst mehr, also kannst du auch mehr ausgeben.”
“Aber das ist doch unser gemeinsames Zuhause.”
“Natürlich ist es das. Ich lebe hier und helfe beim Einrichten.”
Nelly stritt nicht. Sie verdiente tatsächlich mehr und konnte sich die Einkäufe leisten. Hauptsache, sie hatten eine eigene Wohnung und nicht irgendeine Mietwohnung.
Die ersten Konflikte begannen nach sechs Monaten. Pawel äußerte häufiger seine Meinungen über die Ordnung im Hause. “Warum hast du so viele Bücher im Schlafzimmer?” fragte er neugierig, als er das neue Regal sah. “Es ist wenig Platz, und du machst es noch unordentlicher.”
“Die Bücher sind keine Unordnung. Das ist meine Bibliothek.”
“Ein Zuhause sollte gemütlich sein und nicht wie ein Lager aussehen.”
“Pawel, Bücher schaffen Gemütlichkeit. Zumindest für mich.”
“Für dich, für dich… Hast du auch an mich gedacht? Ich lebe schließlich auch hier.”
Nelly war über diese Reaktion überrascht. Früher hatte ihr Mann nichts gegen die Bücher einzuwenden gehabt, manchmal hatte er sogar etwas gelesen.
“Wenn dir das Regal nicht gefällt, können wir es ins Wohnzimmer stellen.”
“Es geht nicht um das Regal. Es geht darum, dass du nicht mit mir sprichst.”
“Worüber soll ich reden? Das sind Kleinigkeiten.”
“Kleinigkeiten? Die Einrichtung des Hauses sind Kleinigkeiten?”
Das Gespräch endete ohne Resultat, aber das Resentiment blieb. Nelly bemerkte, dass Pawel immer öfter mit Missbilligung auf ihre Entscheidungen reagierte. Mal passte der Vorhang nicht, dann war die Möbelanordnung ungeschickt, mal waren die gekauft Produkte ungeeignet.
- Pawel bemerkte einmal während des Abendessens: “Du bist irgendwie selbstständig geworden. Früher hast du mich um Rat gefragt, jetzt entscheidest du alles selbst.”
- “Was meinst du mit selbstständig? Ich war schon immer so.”
- “Nicht so. Diese Wohnung hat dir geschadet.”
“Wie kann eine Wohnung schaden?”
“Ganz einfach. Du hast angefangen zu denken, dass du hier die Chefin bist.”
Nelly legte die Gabel beiseite und sah ihren Mann an.
“Pawel, ich denke nicht, dass ich die Chefin bin. Ich treffe einfach Entscheidungen für den Haushalt.”
“Ohne mich triffst du die Entscheidungen.”
“Hast du früher an den Haushaltsfragen teilgenommen?”
“Ja, ich habe anders teilgenommen.”
“Wie denn?”
Pawel schwieg und spielte mit der Serviette.
“Im Großen und Ganzen weißt du, worum es mir geht.”
Das Gespräch brach ab, aber Nelly spürte, wie die Spannung wuchs. Ihr Mann wurde kritischer und äußerte häufiger Unzufriedenheit über ihre Handlungen. Manchmal schien es, als würde Pawel gezielt nach Gründen für seine Unzufriedenheit suchen.
Die Situation verschärfte sich, als die Schwester Svetlana in den Gesprächen ihres Mannes auftauchte. Die Frau lebte in einer kleinen Stadt, arbeitete als Verkäuferin und mietete ein Zimmer von Fremden. Pawel telefonierte oft mit seiner Schwester und besprach ihre Probleme.
“Svetka hat es schwer”, erzählte er Nelly. “Die Vermieterin ist abweisend und ständig am Nörgeln. Mieten kostet viel.”
“Vielleicht sollte sie eine ganze Wohnung mieten? Oder sich mit Nachbarn zusammentun?”
“Nein, sie sollte besser in unsere Stadt ziehen. Hier gibt es mehr Arbeit und höhere Gehälter.”
“Das ist eine Idee. Soll sie nach Stellenangeboten suchen und umziehen.”
“Ja, das denke ich auch. Wichtig ist, eine Unterkunft zu finden.”
Nelly nickte, und schenktem dem Gespräch wenig Beachtung. Svetlana war eine erwachsene Frau, sie würde selbst mit ihrem Umzug und der Wohnungssuche zurechtkommen.
Aber Pawel setzte fort, die Pläne seiner Schwester immer wieder zu diskutieren. Er erzählte von Inseraten für Mietangebote, die er im Internet gesehen hatte und welche Stadtteile dieser Stadt für Svetlana geeignet wären.
“Mietwohnungen sind zurzeit teuer”, grübelte Pawel laut. “Besonders in guten Bezirken.”
“Aber auch die Gehälter sind hier höher. Das gleicht die Mietkosten aus.”
“Nicht immer. Manchmal geht die Hälfte des Einkommens für die Miete drauf.”
“Nun, das ist vorübergehend. Sie arbeitet ein, zwei Jahre, spart Geld, kauft etwas Eigenes.”
Pawel zuckte mit den Schultern, aber in seinen Augen flashte ein Gedanke.
Eines Abends kam Nelly früher von der Arbeit nach Hause. Die Schicht war frühzeitig vorbei, die Patienten hatten wenig. Sie öffnete leise die Tür, um Pawel nicht zu stören, falls er sich ausruhen wollte.
In der Wohnung hörte sie Pawels Stimme am Telefon aus dem Wohnzimmer.
“Ja, Mama, ich verstehe. Svetka muss wirklich umziehen… Ja, die Mieten sind teuer… Ich denke, ich kann mich mit Nelly absprechen. Solange Svetka auf die Beine kommt, helfen wir mit dem Wohnraum…”
Nelly verharrte an der Tür. Worüber spricht ihr Mann? Was meint er mit “ich kann mich mit Nelly absprechen”?
“Ich weiß nicht, wie Nelly reagieren wird, aber ich denke, ich bekomme sie überzeugt… Ja, die Wohnung ist geräumig, es gibt genug Platz… Wir helfen Svetka, und dann sehen wir weiter…”
Sie ging in die Küche, während ihr Herz schneller schlug. Plant Pawel, seine Schwester in ihre Wohnung zu bringen? Ohne Rücksprache mit seiner Frau?
Als Pawel das Gespräch beendete, kam er in die Küche.
“Oh, hallo. Du bist früh Zuhause.”
“Ja, ich hatte wenig Arbeit. Mit wem hast du gesprochen?”
“Mit Mama. Sie macht sich Sorgen um Svetka, rät ständig, in die Stadt zu ziehen.”
“Verstehe.”
Nelly wollte das Gespräch nicht vertiefen. Sie musste darüber nachdenken, was ihr Mann eigentlich plante.
Einige Tage vergingen ruhig. Pawel verhielt sich wie gewohnt und erwähnte nicht die Pläne seiner Schwester. Nelly begann fast zu glauben, dass das Gespräch abstrakt war, ohne konkrete Absichten.
Doch nach einer Woche wurde die Situation klarer. Während des Abendessens sprach Pawel das Thema des Umzugs von Svetlana an.
“Weißt du, ich habe darüber nachgedacht, was meine Schwester angeht”, begann der Mann, während er das Brot schnitt. “Es wäre wirklich gut, wenn sie zu uns kommt.”
“In unsere Stadt?”
“Ja. Und ich habe mir überlegt, wie ich beim Wohnraum helfen kann.”
Nelly hob den Blick von ihrem Teller und schaute ihren Mann aufmerksam an.
“Wie genau?”
“Svetka wird nächste Woche kommen, wir überlegen gemeinsam, wie wir sie hier unterbringen.”
“Was bedeutet ‘hier unterbringen’?”
“Nun, vorübergehend unterbringen. Bis sie einen Job findet und auf eigenen Beinen steht.”
“Pawel, das ist meine Wohnung. Niemand wird hier wohnen ohne mein Einverständnis.”
Der Mann legte das Messer beiseite und sah seine Frau ernst an.
“Deine Wohnung? Und ich bin hier was?”
“Du bist mein Mann. Du lebst hier, weil wir eine Familie sind.”
“Genau, eine Familie. Und eine Familie hilft sich gegenseitig.”
“Hilft, aber in vernünftigen Grenzen. Wir können Svetlana Geld für eine Mietwohnung geben, ihr bei der Jobsuche helfen. Aber hier einziehen kann sie nicht.”
“Warum nicht?”
“Weil das unseren Frieden stören wird. Wir sind junge Ehepartner, und wir brauchen Raum für uns selbst.”
Pawel grinste und schüttelte den Kopf.
“Persönlicher Raum… Du denkst viel zu viel an dich selbst.”
“Wie meinst du das?”
“So. Du hast die Wohnung bekommen und denkst jetzt, du seist die Königin.”
Nelly spürte, wie ihr Gesicht von Wut heiß wurde.
“Ich habe nicht gedacht, ich wäre die Königin. Ich habe die Wohnung mit meinem Geld gekauft und habe das Recht zu entscheiden, wer hier wohnen darf.”
“Recht hast du, aber du hast die familiären Pflichten vergessen.”
“Welche Pflichten? Deine Verwandten zu unterstützen?”
“In schweren Zeiten zu helfen. Svetka wendet sich nicht ohne Grund an uns, es geht ihr wirklich schlecht.”
“Ich verstehe, dass es schwer ist. Aber die Lösung des Problems ist nicht, zu uns zu ziehen.”
Pawel stand auf und ging in der Küche auf und ab.
“Weißt du was, Nelly? Du bist ganz anders geworden. Egoistisch.”
“Egoistisch? Wofür?”
“Weil du nur an dich selbst denkst. An deinen Frieden, an deinen Komfort.”
“Denkst du an mich, wenn du planst, deine Schwester ohne mein Einverständnis hier einziehen zu lassen?”
“Ich denke an die Familie. Ich will einem nahestehenden Menschen helfen.”
“Familie sind wir beide. Und Svetlana kann sich eine Wohnung im selben Viertel nehmen.”
“Und wovon? Ihr fehlt das Geld für die Anzahlung und die Kaution.”
“Dann leihen wir ihr Geld.”
“Wozu leihen, wenn wir sie einfach lassen können?”
“Weil es meine Wohnung ist, kein Hotel.”
Pawel hielt inne und drehte sich zu seiner Frau um. In seinen Augen blitzte ein Ausdruck, den Nelly zuvor noch nie gesehen hatte. Kühl und entschlossen.
“Bewege dich nicht!” sagte der Mann scharf. “Die Wohnung ist für meine Schwester, und du sollst weiter arbeiten gehen!”
Nelly starrte Pawel an und konnte nicht fassen, was sie hörte. Der Mann stand in der Küche, die Hände in die Hüften gestützt und das Kinn hochgereckt. Er sprach, als würde er einen Befehl an einen Untergebenen geben.
“Was hast du gerade gesagt?” fragte die Frau leise.
“Was du gehört hast. Die Wohnung gehört Svetlana, und du kannst dir eine andere Wohnung suchen.”
“Nein, das wird sie nicht.”
“Doch. Und sprich nicht mit mir.”
Die Frau stand vom Tisch auf und ging zum Fenster. Draußen funkelten die Lichter der Nachbarhäuser und Autos fuhren vorbei, das alltägliche Leben der Stadt. Doch hier, in der Küche, zerbrach ihr Leben.
Zwei Jahre Arbeit in zwei Schichten. Jeder Cent gespart auf den Traum von einem eigenen Zuhause. Schlaflose Nächte im Krankenhaus, zusätzliche Dienste, Verzicht auf Ausgaben und Unterhaltung. Alles für diese Wände, diese Fenster, dieses Haus.
Und jetzt verlangte der Mann, die Wohnung seiner Schwester zu übergeben. Als ginge es um Nichtigkeiten, um unnötige Dinge.
“Pawel, ich gehe schlafen”, sagte Nelly und ging zur Tür.
“Halt! Wir haben das Gespräch nicht beendet.”
“Wir haben es nicht einmal begonnen. Ein Gespräch setzt Diskussionen voraus, und du forderst nur.”
“Ich habe eine Entscheidung getroffen. Als Oberhaupt der Familie.”
“Oberhaupt der Familie?” Nelly drehte sich um. “Du zahlst nicht einmal die Betriebskosten.”
“Es geht nicht um Geld. Es geht um die familiäre Hierarchie.”
“Welche Hierarchie? Wir sind gleichberechtigte Partner.”
“Nein, sind wir nicht. Ich bin der Mann, ich treffe die Entscheidungen.”
Nelly ging schweigend aus der Küche und in das Schlafzimmer. Sie schloss die Tür und setzte sich auf das Bett. Ihre Hände zitterten vor überwältigenden Emotionen.
Pawel betrachtete ihre Arbeit und ihr Geld als gemeinsame Familienressourcen, die ihm nach Belieben zur Verfügung standen. Die Wohnung, für die die Frau zwei Jahre hart gearbeitet hatte, war für ihren Mann nur eine Wohngelegenheit für die Unterbringung von Verwandten.
Nelly nahm ihr Telefon, wählte die Nummer ihrer Freundin Oksana.
“Hallo”, antwortete die Freundin. “Wie läuft es?”
“Oks, ich habe ein Problem. Können wir reden?”
“Natürlich. Was ist passiert?”
Nelly erzählte von dem Gespräch mit ihrem Mann und seinen Forderungen bezüglich seiner Schwester.
“Du hast lange genug ausgehalten”, seufzte Oksana nach Nellys Schilderung. “Es ist Zeit, damit aufzuhören.”
“Was meinst du damit?”
“Nelly, du arbeitest wie ein Pferd, kaufst eine Wohnung, und dein Mann denkt, er hat das Recht, damit umzugehen. Das ist nicht normal.”
“Aber wir sind doch eine Familie…”
“Eine Familie basiert auf gegenseitigem Respekt. Und nicht darauf, dass einer arbeitet und der andere kommandiert.”
“Ich weiß nicht, was ich tun soll.”
“Weißt du. Du hast nur Angst, es zu tun.”
Die Freundin hatte recht. Nelly wusste, was zu tun war, aber sie hatte Angst, die Entscheidung zu treffen.
Am Morgen stand Nelly früh auf, noch bevor Pawel aufwachte. Sie zog sich an, nahm die Dokumente und das Geld und verließ das Haus. Die erste Station war die Schlosserwerkstatt.
“Ich muss die Schlösser in der Wohnung wechseln”, sagte Nelly zum Handwerker.
“Dringend?”
“Sehr dringend. So schnell wie möglich.”
“Heute klappt es. Ich komme nachmittags vorbei.”
“Perfekt.”
Die nächste Station war das Verwaltungsbüro. Nelly fand das richtige Zimmer, erklärte der Managerin die Situation.
“Ich möchte einen Antrag stellen”, erklärte sie. “Ihnen dürfen keine Duplikate der Schlüssel zur Wohnung übergeben werden, außer mir.”
“Und Ihr Mann? Er ist doch im Melderegister?”
“Nein, er ist nicht gemeldet. Ich bin nur die Eigentümerin und die einzig Festgeschriebene.”
“Dann gibt es kein Problem. Unterschreiben Sie hier.”
Bei der Arbeit erzählte Nelly ihren Kollegen, dass es Anrufe von ihrem Mann geben könnte.
“Wenn jemand nach meinem Zeitplan fragt oder wann ich zu Hause bin, sagt bitte nichts”, bat die Frau.
“Ist etwas passiert?” fragte die Oberkrankenschwester besorgt.
“Familienprobleme. Das klärt sich bald.”
Abends kam Nelly nach Hause. Pawel war nicht da – anscheinend hatte er sich bei der Arbeit verspäten oder war zu Freunden gegangen. Der Handwerker hatte die Schlösser bereits gewechselt und die neuen Schlüssel hinterlassen.
Sie zog sich um und bereitete das Abendessen zu. Sie aß allein und lauschte den Geräuschen im Treppenhaus. Pawel würde zurückkehren und feststellen, dass der Schlüssel nicht passt.
Um 21 Uhr hörte sie ein Klopfen an der Tür. Erst ein kurzer Klopf, dann ein langer, gefolgt von einer Reihe kurzer Klopfer.
“Nelly! Öffne!” rief Pawel von der anderen Seite der Tür. “Was für dämliche Scherze sind das?”
Die Frau ging zur Tür, öffnete sie aber nicht.
“Ich habe die Schlösser gewechselt”, sagte sie ruhig durch die Tür.
“Wieso das?”
“Weil du hier nicht mehr wohnst.”
“Was zur Hölle? Mach sofort auf!”
“Nein.”
“Nelly, das ist auch meine Wohnung! Ich lebe hier!”
“Die Wohnung ist meine. Die Dokumente sind auf mich ausgestellt.”
“Bist du verrückt geworden? Wir sind doch Mann und Frau!”
“Wir waren es. Bis du beschlossen hast, über mein Eigentum zu verfügen.”
Pawel schwieg und begann dann an die Tür zu hämmern.
“Mach auf! Ich brauche meine Sachen!”
“Morgen bringe ich sie runter. Dann kannst du sie holen.”
“Nelly, hör auf mit dem Unsinn! Mach die Tür auf!”
“Nein.”
Das Klopfen hörte auf. Pawel ging. Eine Stunde später klingelte das Telefon.
“Bist du total verrückt?” schrie der Mann am anderen Ende der Leitung. “Die Wohnung gehört uns beiden! Ich habe das Recht, dort zu wohnen!”
“Nein, hast du nicht. Du bist kein Eigentümer und nicht gemeldet.”
“Ich bin dein Mann!”
“Noch bin ich dein Mann. Morgen beantrage ich die Scheidung.”
“Was?”
“Du wohnst hier nicht mehr. Alle Fragen gehen über das Gericht.”
“Nelly, mach keine Dummheiten! Wir lieben uns doch!”
“Du liebst mich nicht. Du nutzt mich aus.”
“Sprich keinen Unsinn!”
“Du hast verlangt, die Wohnung deiner Schwester zu geben. Ist das Liebe?”
“Ich wollte meiner Verwandten helfen!”
“Auf meine Kosten. Mit meiner Arbeit. Mit meinem Geld.”
“Wir sind ein Familie! Eine Familie hat gemeinsames Eigentum!”
“Familie hat gemeinsame Entscheidungen. Aber du hast über meine Entscheidung entschieden.”
Nelly legte auf und schaltete das Handy aus. Pawel rief noch eine Stunde lang an, aber sie beantwortete nicht.
Am nächsten Morgen nahm Nelly sich einen Tag frei von der Arbeit und ging zu einem Anwalt. Sie erklärte die Situation und erfuhr von dem Scheidungsverfahren.
“Wird das Vermögen aufgeteilt?” fragte der Anwalt.
“Die Wohnung wurde mit meinem Geld vor der Ehe gekauft. Mein Mann hat keinerlei Ansprüche auf sie.”
“Dann gibt es keine Probleme. Es ist der Standardzustand bei der Scheidung.”
“Wie lange wird es dauern?”
“Bei gegenseitiger Zustimmung einen Monat. Wenn der Mann dagegen ist, bis zu drei Monate.”
“Er wird dagegen sein.”
“Dann bereiten Sie sich auf einen langen Prozess vor.”
Nelly unterschrieb den Vertrag mit dem Anwalt und zahlte die Beratung. Die nächste Station war das Standesamt.
“Ich möchte eine Scheidung einreichen”, sagte die Frau zur Angestellten.
“Gibt es minderjährige Kinder?”
“Nein.”
“Gibt es das Einverständnis des Mannes?”
“Nein.”
“Dann über das Gericht. Hier ist die Adresse des örtlichen Gerichts.”
Nelly schrieb die Adresse auf und ging, um eine Klage auf Scheidung einzureichen.
Als sie abends nach Hause kam, klingelte das Telefon. Eine unbekannte Nummer.
“Nelly? Hier ist Lidija Michailowna, die Mutter von Pawel.”
“Guten Tag.”
“Was für ein Unsinn machst du? Du hast deinen Sohn aus dem Haus geworfen!”
“Ich habe niemanden rausgeworfen. Ich habe einfach aufgehört, ihn in meine Wohnung zu lassen.”
“Wie meine? Ihr seid doch eine Familie!”
“Wir waren eine Familie.”
“Was man so sieht, hast du kein Mitleid mit Svetlana! Sie hat nirgends ein Dach über dem Kopf! Sie sollte zu euch ziehen!”
“Das interessiert mich nicht.”
“Wie kann das nicht interessieren? Du bist schließlich die Schwiegertochter!”
“Ich war die Schwiegertochter. Jetzt habe ich die Scheidung eingereicht.”
“Was?!”
“Meine Wohnung – meine Verantwortung. Fremde Menschen werden hier nicht leben.”
“Was für fremde? Das sind doch Verwandte!”
“Pawel ist für mich kein Verwandter mehr. Folglich ist seine Schwester auch nicht mehr.”
“Du bist wirklich unglaublich!” empörte sich die Schwiegermutter. “Du bist so grausam!”
“Ich bin nicht grausam, sondern prinzipientreu.”
“Pawel sagt, du bist völlig verrückt geworden!”
“Wenn es verrückt ist, für meine Rechte zu kämpfen, dann ja, dann bin ich verrückt.”
Nelly legte auf und blockierte die Nummer. Eine halbe Stunde später rief Pawel von einem anderen Telefon an.
“Nelly, hör auf mit dem Unsinn! Ich will nach Hause!”
“Finde dir ein anderes Zuhause.”
“Das ist auch mein Zuhause!”
“Nein. Dein Zuhause ist dort, wo duangenommen wirst. Du kannst mich nicht mehr überzeugen.”
“Ich habe doch nicht böswillig über die Wohnung gesprochen! Ich wollte nur meiner Schwester helfen!”
“Hilf mit deinem eigenen Geld.”
“Ich habe kein Geld!”
“Such dir einen besseren Job. Verdiene mehr.”
“Nelly, sei doch ein Mensch!”
“Ich bin ein Mensch. Mit Rechten, Bedürfnissen, Grenzen. Die du verletzt hast.”
“Welche Grenzen?”
“Du hast entschieden, dass meine Wohnung an deine Schwester gegeben wird. Ohne mein Einverständnis.”
“Naja, das denkt man sich eben mal…”
“Eben das. Man denkt. Aber du hast nicht nachgedacht.”
Nelly legte auf und schaltete das Telefon aus. Es gab nichts mehr zu besprechen.
Eine Woche später erhielt die Frau eine Vorladung zum Gericht. Pawel hatte eine Gegenerklärung eingereicht und verlangte eine Aufteilung des Eigentums. Der Anwalt versicherte, dass die Forderungen ihres Mannes unbegründet waren.
“Er hat keine Rechte an der Wohnung”, erklärte der Anwalt. “Aber er kann den Prozess in die Länge ziehen.”
“Soll er ziehen. Das Wichtigste ist, dass er nicht in der Wohnung ist.”
Nelly ließ Pawel nicht mehr hinein, antwortete nicht auf seine Anrufe und ignorierte Nachrichten. Der Mann versuchte, seine Frau vor dem Eingang abzufangen, aber sie ging immer über den Hintereingang.
Die Scheidung zog sich über drei Monate hin. Pawel forderte die Hälfte der Wohnung und berief sich auf eheliche Rechte. Das Gericht wies die Forderungen zurück – die Wohnung war mit Nellys eigenen Mitteln vor der offiziellen Ehe gekauft worden.
Am Ende wurde die Ehe ohne Aufteilung des Vermögens geschieden. Nelly erlangte ihre Freiheit, während Pawel mit nichts dastand.
Die Frau änderte ihre Telefonnummer und ließ die Gegensprechanlage mit Videoüberwachung installieren. Sie schloss den Zugang zu sich und ihrer Wohnung für ihren Ex-Mann vollständig ab.
Sie arbeitete nun nur noch in einer Schicht. Es war Zeit für sich selbst, für Hobbys und für Freunde übrig. Die Wohnung wurde wieder zu einem Zuhause und nicht zur Quelle von Konflikten.
Nelly stellte ihre persönlichen Grenzen wieder her und begann, ein Leben ohne Parasiten aufzubauen.